Ekstase - Begriff und Phänomen
von Dr. Torsten Passie

 
 

Wer von Ekstasen hört oder liest, denkt zunächst unwillkürlich an Heilige oder Märty-rer oder aber an exotische Tempelfeste und religiöse Kultgebräuche primitiver Völ-ker. Dabei sind aber Ekstasen über das Gebiet des Religiösen hinaus etwas nicht so Ungewöhnliches, wie man anzunehmen geneigt ist.
Im Folgenden soll der Versuch gemacht werden, Ekstase wissenschaftlich zu definieren, anschauliche Beispiele zu geben als auch zwei ihrer Formen zu charakterisieren.
Ekstase kann definiert werden als ein hoher Grad von Verzückung unter völliger Konzentration der inneren Anteilnahme auf bestimmte tatsächliche oder eingebildete Vorgänge, wobei jede geistige Betätigung in anderer Richtung, die Wahrnehmung sonstiger Sinneseindrücke mehr oder weniger ausgeschaltet sind. Lassen wir uns aber von einer berühmten Ekstatikerin belehren: Die heilige Therese aus dem 16. Jahrhundert schreibt in ihrer Autobiographie: „Die Ekstase ist ein geistiger Schlaf der Seelenkräfte. Die Seele wird schwebend erhalten, dass sie ganz außer sich zu sein scheint, der Wille ist versunken, das Gedächtnis geschwunden, die Denkkraft außer Tätigkeit, aber nicht verloren, wie überwältigt von den großen Dingen, die sie wahrnimmt.“ Die Ek-stasis, das „Außersichsein“ bezieht sich auf ihre religiöse Verzückung, in der sie mit Gott und den Heiligen spricht, bis sie letztendlich fähig wird, die ganze Größe Gottes in Visionen ihrer Ekstase zu schauen. Doch auch qualvolle Angsthalluzinationen drängen sich ihr in diesen Zuständen auf. Der Satan erscheint, droht ihr und sucht sie vom Pfad der Tugend und Gottgefälligkeit abzubringen.
Bei der heiligen Therese und anderen religiösen Ekstatikern des Mittelalters war diese ins Extrem gesteigerte Inbrunst des religiösen Gefühls, das Begehren, sich vor Gott durch besondere Kasteiungen hervorzutun, eine sich aus der geistig-religiösen Verfassung jener Zeit heraus entwickelnde Erscheinung. Die religiösen Ekstasen „Begnadeter“ waren jedoch auch von körperlichen Sensationen erfüllt. So beschreibt eine ekstatische Nonne dieser Zeit ihren Zustand wie folgt: „In der Verzückung scheint die Seele den Körper zu verlassen, deswegen nimmt die natürliche Wärme ab, die Glieder werden nach und nach kalt, obgleich man zu gleicher Zeit großes Wohlbehagen spürt. Ich fühle mich fortgeführt, ohne zu wissen wohin. Ehe man es denkt, kommt ein plötzlicher Stoß, und so lebhaft ist dabei oft der Schmerz, dass ich zu widerstehen versuchte. Aber alles war umsonst, meine Seele wurde verzückt und mein Kopf folgte ihrer Bewegung, ohne dass ich ihn zurückhalten konnte. Zuweilen wurde gar mein Körper erhoben, so dass er hoch über der Erde schwebte ...“. Selbst aus dieser naiv erscheinenden mittelalterlichen Darstellung erkennt man die charak-teristische, durch Halluzinationen hervorgerufene, Unempfänglichkeit für normale Lage– und Gleichgewichtsempfindungen. Auch unangenehme Begleiterscheinungen ekstatischer Zustände wurden von Maria degli Angeli schon um 1700 genau beschrieben: Erregungszustände mit starkem Herzklopfen, dem Gefühl von Hitze in der Brust, Trockenheit in Mund und Kehle und auch starke schwere hypochondrische Empfindungen.
Nicht nur die christliche Kirche weist eine große Zahl Ekstatiker auf, auch fast jede andere Religion, fast jede Glaubensgemeinschaft kann von Ekstatikern berichten. In jüdischen Schriften, Legenden und Überlieferungen sind zum Beispiel auf Schritt und Tritt die Schilderung ekstatischer Zustände, ekstatischer Visionen anzutreffen. Aus den Legenden von Baalschem, der offenbar selbst ein Ekstatiker war, sei nur an das visionäre Erlebnis des Rabbi Simeon erinnert, dem blitzgleich ein weißer zündender Strahl durch den Körper fuhr, was die Versunkenheit seiner Erinnerung aufhellte und ihm die gewaltigen Geschichten von Baalschem wieder einfallen ließ, die er anschließend predigen und verbreiten sollte. Die religiösen Ekstasen haben zur Zeit des Mittelalters, als Glaubensfragen die Gemüter fast völlig beherrschten, ihre höchsten Blüten getrieben und finden sich heute noch bei Völkern, Brüderschaften und Sekten, deren gesamtes Fühlen und Denken durch die Beschäftigung mit Fragen der Gottheit und ihrer Verehrung bestimmt ist.
Viele ekstatische Persönlichkeiten jedweder Glaubensbekenntnisse haben Gefolgschaft und Nachahmung gefunden, haben durch ihr Wirken zeitweilig sogar das erzeugt, was als Massenekstase bezeichnet werden könnte. Aus der Vorzeit von den Tempelfesten der Astarte oder Istar, vom Dionyskultus der alten Griechen mit seinen wilden Bacchanalen ist uns einiges über derartige Massenekstasen überliefert. Bei Teilen der Naturvölker reißt die Ekstase des Schamanen oder Priesters das ganze Volk zu ekstatischen Tänzen hin. An heruntergespannte Bäume gebunden, kleine Pflöcke durch das Fleisch der Muskeln getrieben, tanzt beim Sonnentanz der Prärie-Indianer der Auserwählte zu Ehren des Sonnengottes bis er in höchster Wollust des gottergebenen Taumels die Holzpflöcke aus den blutenden Gliedern herausgerissen hat, bis er völlig erschöpft zusammensinkt. Und mit ihm jauchzt und tobt das ganze Volk in ekstatischer Raserei. In der mohammedanischen Welt wirkten seit Jahrhun-derten die Orden der tanzenden Derwische. Auch ihre Ekstasen, angefeuert mit Mu-sik und durch stürmische Tänze zur Entfaltung getrieben, reißen mit und schaffen immer wieder traditionserhaltende Gefolgschaft.
Die religiösen Ekstasen sind jedoch bei weitem nicht die einzigen Ausdrucksformen der Ekstase. Vielfältig sind die Regungen, die den Einzelnen und die Masse zur Ekstase bringen können. So bringt die wohl jedem bekannte Ekstase beim Spiel der körperlichen Liebe, die der Definition des „Außer-sich-sein“ der „heiligen Therese“ durchaus entspricht, den Willen lähmt, das Gedächtnis und das Denken schwinden läßt, so bleiben noch eine Vielzahl anderer Verzückungen, die – neben den eben genannten Charakteristika des ekstatischen Zustandes - alle gemeinsam haben, dass sie aus den Tiefen des Unbewußten heraus, aus gefühlsmäßigen Regungen und triebgleichen emotionalen Empfindungsqualitäten entstehen. Niemals ist das kritisch abwägende „mittlere Tages-Wachbewußtsein“ (Scharfetter) mit derjenigen Art von Denken, Emfinden und Willenstätigkeit verbunden, aus der ekstatische Zustände entstehen. Die musikalische, künstlerische und die ethische Ekstase entsteht vielmehr aus den Tiefen der Seele heraus und nur wenn sie mit dem geschaffenen Werk wieder etwas zum Klingen bringt, im Unbewußten der Schauenden, Hörenden, Genießenden, nur dann kann das aus Ekstase gestaltete Kunstwerk auch Ekstase wecken.
Auch bei der sportlichen Massenekstase gestaltet sich Höchstleistung aus einer zunächst bewußten Konzentration auf das erstrebte Ziel, aus einer Anspannung sämtlicher körperlichen und seelischen Kräfte unter Ausblendung aller sonstigen Fähigkeiten, dass zumindest ein der Ekstase ähnlicher Zustand erreicht werden kann. Diese Einzelekstase kann dann mit ihren Höchstleistungen die Masse in eine ekstasegleiche Erregung bringen, sei es bei Fußballspielen, Stierkämpfen oder Bühnen- und Musikereignissen. Das „Außer-sich-geraten“ eines Publikums im Stadion, suggestiv sich durch die Reihen der Tausende fortsetzend, kann beim Einzelnen und der Gesamtheit den zielgerichteten Willen, das Gedächtnis und jede geordnete Denkkraft scheinbar für Minuten, sogar Viertelstunden zum Verschwinden bringen. Würde sich ein Einzelner sich in der Öffentlichkeit so benehmen, wie er es in der außer sich geratenden Masse eines Stadions tut, so würde sein Verhalten erhebliche soziale Konsequenzen nach sich ziehen.
Sollen Ekstasen differenziert beschrieben werden, so sind ihre verschiedenen Formen auseinanderzuhalten. Im allgemeinen nimmt man als selbstverständlich den Zustand einer verzückten Erregung als den der Ekstase an. Schon das Tier kennt Bewegungsekstasen, die als Muskelekstasen bezeichnet werden könnten. Beim Tier scheinen diese Ekstasen aus spezifischen triebhaften und instinktiven Regungen hervorzugehen, wie sie, freilich entsprechend verfeinert und vielseitiger, auch bei den menschlichen Ekstasen angenommen werden dürfen. Ein zu lange auf engem Raum eingesperrtes Pferd, steigert die Erregung unter dem Druck seines Bewegungsdranges und tobt in übersteuerter Bewegungsekstase seine Bewegungskraft aus. Auch ein Hund, der seinen Herrn länger missen musste, gerät in einen fast ekstatischen Taumel, wenn er ihn wiedersieht. Trotz Dressur kann sich die Wildheit seiner Begrüßung, sein tobendes Hin- und Herwerfen manchmal bis zu Kratz- und Bißverletzun-gen des Begrüßten steigern. Dies zeigt – wie typisch bei der Ekstase - eine Ausschaltung des Erfahrungsschatzes und der anerzogenen Fähigkeiten an. Auch das Werben, die Balztänze um das Weibchen bringen fast jedes Tier einen ekstasegleichen Zustand des „Außer-sich-seins“.
Doch neben den ekstatisch Erregungszuständen sind von religiösen Ekstatikern auch Zustände völliger Versunkenheit mit Reglosigkeit des Körpers überliefert. Darüber hinaus sind Zustände dokumentiert, die ein stunden- und tagelanges Verharren des ekstatisch Verzückten in unnatürlicher Stellung und Haltung bedingen (z.B. indische Fakire).
Noch ein anderes Gebiet kommt in den Sinn und hat Bezug zur Ekstase, die uns vom Alltagsbewußtsein befreit und in Verzückung und Erhabenheit versetzen kann. Auch Traum und Rausch sind wie ekstatische Erscheinungen, die aus den Quellen des Unbewußten erwachsen. Opiumrausch und Haschischträume zaubern Visionen, wecken Halluzinationen von greifbarer Nähe und Deutlichkeit, lassen unter Verminderung von Willen, Denkvermögen und besonnener Überlegung den Menschen sich konzentrieren auf den aufwühlenden, sein ganzes Ich erschütternden Genuß der rauschmittelinduzierten Träume. Während beim Opium- und Haschischrausch schlafähnliche Zustände typisch sind, kann die vom Kokain erzeugte Euphorie sich zu ekstatischen Erregungzuständen aufbauen. So fühlen sich manche Kokainberauschte in Welten erträumter Herrlichkeiten versetzt, fühlen sich emporgehoben in Höhen und Weiten ungeahnter Größe, scheinen auf Wolkensegeln himmlischer Phantasien dahinzutreiben. Die medikamentöse Ekstase gehört im Rahmen der Be-arbeitung der Ekstasetechniken – mit einer Ausnahme – zu den archaischen Formen.
Doch alle diese Ekstasen führen den Körper und Geist fast immer abwärts und nicht hinauf. Soweit reicht das Spektrum der Ekstasen: von dumpfen Rauschzuständen bis zu den Ekstasen, die aus archetypischen Tiefen des menschlichen Geistes erwachsen, Ekstasen des Religiösen, Ekstasen des Kampfes, Ekstasen der Macht und Ek-stasen des Schaffens. Jeder Mensch ist wohl fähig zur Ekstase, zur kleinen, zur großen oder zur ganz großen. Jeder Mensch wird jedoch im Verlauf seines Daseins nur diejenigen Ekstasen erleben, die seiner inneren Struktur entsprechen. Die Ekstasen der vielen, der einzelnen Kleinen verrauschen ohne zu wirken, ohne befruchtend Neues oder Großes zu erzeugen. Doch die Ekstasen der Großen wirken durch Jahr-zehnte und Jahrhunderte.





 

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